Versteckt in den Ästen einer alten Eiche, lag ein altes Vogelnest.
Schon oft hatten Vögel darin ihre Jungen ausgebrütet. Auch dieses Jahr versuchte ein junges Vogelpaar sein Glück. Sie suchten dieses Nest aus, weil sie dachten dass die Eiche standfest und somit ihren Jungen ein stabiles Zuhause bieten würde. Liebevoll sammelten sie Gräser und Moos um das Nest weich und gemütlich zu machen.
Bald darauf lagen drei Eier drin, die sie liebevoll hegten. Abwechselnd setzten sie sich auf die Eier um ihnen die nötige Wärme und Geborgenheit zu geben, damit ihre Jungen optimal gedeihen konnten.
Einige Zeit später begann das erst Ei zu brechen, bald darauf das Zweite, nur das Dritte liess auf sich warten.
Emsig machten die frisch gebackenen Eltern sich daran ihre beiden Jungen zu füttern, dass im dritten Ei sich noch nichts regte, darüber machten sie sich keine Gedanken, sie waren viel zu beschäftigt.
Weil die Geburt ihres dritten Kindes sich viele Tage verzögerte, begannen sie sich dann doch zu sorgen. „Wie kann das Leben uns nur so übel mitspielen“, klagten sie. „Wenn unser drittes Kind sich noch länger Zeit lässt, dann wird es sicher behindert oder gar tot zur Welt kommen.“
Als sich im dritten Ei etwas regte, tobte grade ein heftiger Sturm. Die Eiche wurde hin und her gerüttelt. Die Vogeleltern hatten die grösste Mühe ihre beiden Jungen zu beschützen, dass der mächtige Wind ihnen keinen Schaden zufügte. Um das Ei konnten sie sich nicht auch noch kümmern.
Als die Schale des dritten Ei aufbrach und ein Vögelchen sein kahles Körperchen durch die Schale zwängte, wurde sein schutzbedürftiges Körperchen von einer heftigen Böe mitgerissen. Seine Eltern konnten gar nichts tun.
Hart schlug das kleine Vögelchen am Boden auf. Als wäre das nicht genug, wurde sein geschundenes Körperchen von harten Regentropfen malträtiert.
Die Eltern klagten und beteten zu Gott, er möge sich doch ihrem Kleinen annehmen und gelobten, sie würden sich ohne Klagen um ihr Junges kümmern.
Andern Tags, kam der Förster in den Wald um zu schauen welcher Schaden der Sturm angerichtet hatte. So kam er an dem kleinen geschundenen Vögelchen vorbei, dass da hilflos halb tot am Boden lag.
Vorsichtig nahm er das Vögelchen in seine Hand, kletterte auf die Eiche hoch bis zu dem Nest, von dem er wusste und legte das kleine Kerlchen zu den beiden anderen Vogelkindern.
Als die Eltern von der Nahrungssuche zurückkamen, konnten sie es kaum glauben, wie durch Zauberhand lagen plötzlich drei Junge im Nest.
„Ein Wunder ist geschehen, ein Wunder“, riefen sie und nahmen sich voller Freude dem Jüngsten Spross an.
Das beim Fall auf den harten Boden, beide Flügel brachen und er Kleine deswegen das Nest nie würde verlassen können, machte ihnen nichts aus. Sie schickten sich in ihr Schicksal und kümmerten sich liebevoll um ihren Jüngsten.
Als die beiden älteren Kinder das Fliegen lernten, fragte der Jüngste wann für ihn die Zeit kommen würde, um das Nest zu verlassen.
„Ach Pumpernell“, so hiess der Kleine, „du kannst nicht wie deine Brüder das Fliegen lernen. Nach deiner Geburt bist du aus dem Nest gefallen und hast dir dabei beide Flügel gebrochen. Darum wirst du für immer an diesen Ort gebunden sein.“
„Warum bin ich denn aus dem Nest gefallen?“
„Du hast zu lange gezögert um das Licht des Lebens zu erblicken. So musste Gott nachhelfen und hat einen mächtigen Sturm geschickt. Du wurdest gehörig durchgeschüttelt und als du dich endlich getrautest das schützende Ei zu verlassen, wurdest du vom Wind mitgerissen.“
Traurig versuchte Pumpernell sich seinem Schicksal zu fügen, doch das Leben in dem engen Nest, entsprach nicht seinem wirklichen Wesen.
Der Wunsch wie seine Brüder in die weite des Himmels zu fliegen wurde immer grösser. Von der Sehnsucht nach Freiheit gequält, wurde er krank.
Er konnte nicht mehr essen. Selbst die dicken Würmer, die er so liebte, blieben ihm im Halse stecken. Seine wunderschönen Federn verloren ihren Glanz, wurden ganz matt und standen kreuz und quer. An einigen Stellen vielen sie sogar aus.
Seine Eltern machten sich grosse Sorgen und boten ihm die besten Leckerbissen an. Als sie merkten dass alle Mühe sich nicht lohnte und ihr Sohn immer unscheinbarer anzuschauen war, sagten sie: „Pumpernell friss oder stirb, wir können nicht mehr für dich tun.“
Pumpernell wäre liebend gerne gestorben, aber nicht einmal dazu war er fähig.
Als eines Nachts ein heftiger Sturm losbrach, kletterte er auf seinen dünnen Beinchen aus dem Nest und kroch auf den äussersten Ast der grossen Eiche. Dort warf er einen letzten, traurigen Blick auf seine schlafenden Eltern und liess sich fallen.
Er dachte der harte Aufprall auf den Boden würde seinem elenden Leben endlich ein Ende setzten.
Während er dem Boden zufiel, wurde er von einer heftigen Böe mitgerissen und weit, weit in den Himmel hinaufgetragen.
„Ach könnte ich doch fliegen“, rief Pumpernell, „so würde mir das Leben gefallen. Doch mit gebrochen Flügeln werde ich das nie können. Der Wunsch zu fliegen wird immer nur ein Wunsch bleiben.“
„Hast du es den schon einmal versucht?“ fragte der Wind auf dessen Schultern er sass.
„Nein, das geht nicht“, antwortete Pumpernell.
„Warum? Woher willst du das wissen?“
„Meinesgleichen braucht zwei gesunde Flügel um zu fliegen. So haben es mich meine Eltern gelehrt.“
„Und du glaubst was deine Eltern dir sagen?“
„Ja, sie müssen es ja wissen.“
Der Wind begann zu lachen, so dass Pumpernell beinahe von seinen Schultern fiel.
„Nur weil deine Eltern zwei gesunde Flügel haben und andere Vögel auch, heisst nicht das du mit zwei gebrochenen Flügeln nicht fliegen kannst. Du selbst entscheidest ob du fliegen willst.“
„Aber Wind, kein Vogel ist je mit gebrochenen Flügeln geflogen.“
„Dann ist es Zeit das es jemand versucht. Du hast ja nichts zu verlieren. Wenn du nicht fliegen kannst, dann wirst du sterben. Wenn doch, dann wirst du alles erreichen können was du willst.“
Die Vorstellung den sicheren Platz auf des Windes Schultern zu verlassen, machten Pumpernell gehörig Angst. Sicher, grade eben noch hatte er sterben wollen, aber da hatte er ja noch nicht gewusst wie schön das Leben sein konnte.
„Ewig kannst du nicht auf meinen Schultern sitzen bleiben. Meine Arbeit ist schon bald beendet, dann kehre ich zu meiner Frau zurück. In ihren Armen werde ich zahm wie ein Lamm. Ich werde dann nicht mehr die Kraft haben dich zu tragen. Doch weil ich dich mag und richtig lieb gewonnen habe, werde ich dich ganz hoch hinauf tragen bis zu den Sternen. Von da oben wirst du genügend Zeit haben das Fliegen zu lernen. Es liegt an dir ob du deiner Sippe glauben schenkst, ihre Vorstellungen und Gewohnheiten leben willst. Oder ob du einen neuen Weg einschlagen und die Kraft deines Herzens zu leben beginnst.“
„Der Kraft meines Herzens?“ fragte Pumpernell.
„Ja. Hast du dich noch nie gefragt warum du den Sturz aus dem Nest überlebt hast?“
Pumpernell schüttelte heftig mit dem Köpfchen.
Der Wind musste erneut lachen. „In dir schlägt ein kraftvolles Herz, das genau weiss, dass alles möglich ist. Du hast jetzt die Möglichkeit auf dein Herz zu hören und ihm zu vertrauen.“
Mit diesen Worten schupste der Wind Pumpernell von seinen Schultern, so kraftvoll, dass er tatsächlich bis zu den Sternen gelangte.
Von der glanzvollen Schönheit der Sterne tief berührt, versuchte Pumpernell sich neugierig seinem Herzen zu nähern. Als er sich der Kraft seines Herzens bewusst wurde, getraute er sich seine gebrochenen, verkrüppelten Flügel zaghaft auszustrecken.
Doch weil er nicht wusste wie seine Flügel zu gebrauchen waren, viel er, sich um sich drehend, von den Sternen der Erde zu. Immer schneller und schneller, so dass er bald nicht mehr wusste wer er war. In diesem Moment geriet alles was er gelernt und gelebt hatte in Vergessenheit. Als dies geschah, streckte er, so als wäre es das selbstverständlichste der Welt, seine verkrüppelten Flügel aus und bewegte sie, so als hätte er das schon ewig getan, auf und ab.
Auf einmal fiel er nicht mehr der Erde zu. Im Gegenteil, so als würde er vom Wind getragen, gewann er stetig an Höhe.
Pumpernell gab sich ganz dem Gefühl des Schwebens hin. Tat einfach was ihm bestimmt. Kein Gedanke, dass ein Vogel mit gebrochenen, verkrüppelten Flügeln nicht fliegen konnte, hinderte ihn daran seine Bestimmung zu leben.
Als er es merkte, begriff er was der Wind ihm hatte sagen wollen.
„In meinem Herzen finde ich die Kraft alle Begrenzungen zu überwinden.
In meinem Herzen finde ich die Magie alles zu erreichen.“
Voller Zuversicht und Freude, flog Pumpernell erneut den Sternen zu, deren Glanz sich in seinem Herzen widerspiegelte.